Abschiedstext Oktobertagung
Wie lassen sich landwirtschaftliche Arbeit und menschliche, individuelle Bedürfnisse miteinander vereinbaren? Wie kann das Wesen des Menschen in seinen vielen Facetten im Hofleben und Arbeitsalltag seinen Platz finden? Und noch persönlicher gefragt: Was brauche ich? Was macht mich froh? Wie möchte ich arbeiten? Wie leben?
Diese Fragen standen im Zentrum des Mottotextes der diesjährigen Herbsttagung der Freien Ausbildung. Jedes Jahr bereiten die Lehrlinge des dritten Jahrgangs aus den Regionen Ost, Nord und West diese Veranstaltung vor und organisieren dabei alles von der Finanzierung über Programmgestaltung und Verpflegung bis hin zu Technikbedarf und Deko. Vom 2. bis 5.11.2017 kamen nach monatelanger Vorbereitung schließlich 300 Gäste in der Freien Waldorfschule in Kleinmachnow bei Berlin zusammen und bearbeiteten das anspruchsvolle Motto „Vergiss Mein nicht“ auf vielfältige Weise.
Die Orientierung im Alltag behalten
Vivian Dittmar, eine beseelte und intelligente Rednerin eröffnete für uns die Tagung und erinnerte an unsere Emotionen und Bedürfnisse, die, nur wenn sie wahrgenommen werden, zu authentischen Impulsen führen. Emotionen, Bedürfnisse und Impulse werden so zu einem inneren Navi – ohne sie sind wir orientierungslos. Wenn wir unsere Wege authentisch und kraftvoll beschreiten wollen, brauchen wir hingegen klare Orientierung, außen wie innen. Eine gute Verbindung nach innen, zum Ich wird unablässig. In all dem Alltagsstress auf den Höfen, der nicht enden wollenden Arbeit und den eigenen hohen Idealen an unser Tun verlieren wir diesen guten Ich-Fokus jedoch schnell und oft…
Auch Reiko Wöllert inspirierte uns mit seinen Worten. Als Ehemann und vierfacher Vater, Käser, Landwirt, Betriebsleiter, Ausbilder, Politiker in der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft erzählte er uns, wie er all die Schauplätze seines Lebens unter einen Hut bekommt ohne dabei auszubrennen: Handy aus – das, was man tut, bewusst tun – Kraft aus dem schöpfen, was man liebt – Regenerationszeiten achten. Eine simple aber überzeugende Rezeptur, wie wir finden. Das Gespräch mit ihm streifte auch immer wieder das Thema Entwurmungskuren für Ziegen und brachte uns oft laut zum Lachen.
Den Rahmen der gemeinsamen Tage bildeten zum einen die traditionellen Fortbildungskurse, in denen externe Dozenten ihr Wissen weitergaben. Tanz, Pflanzengeister, Bodenbiologie und Gemeinschaftsstrukturen auf Höfen sind hierbei nur einige Beispiele für Kursthemen.
Zum anderen gab es den Open Space – den Offenen Raum. Hier waren vor allem all die aktuellen, ehemaligen und zukünftigen Lehrlinge, die angereist waren, die Experten. Sie erzählten von ihrem selbst programmierten digitalen Gärtner-Tagebuch, lehrten Selbstverteidigung oder freies Zeichnen. Jeder konnte aktiv werden.
Open Space zur Zukunft der Freien Ausbildung
Seit Anfang April dieses Jahres gibt es einen bundesweiten Arbeitskreis, der an Zukunftsbildern für die Freie Ausbildung arbeitet. Das Ziel ist, die finanzielle Lage zu konsolidieren, die Ausbildung qualitativ weiter zu entwickeln und die öffentliche Anerkennung zu verbessern.
Jakob Ganten arbeitet als Koordinator dieses Arbeitskreises und stellte die aktuellen Überlegungen in zwei Open Space Einheiten am Freitag und Samstag vor. Die Teilnehmenden sammelten Visionen zu der Frage, wo die Freie Ausbildung in 5 Jahren stehen soll: „Wenn ich als Lehrling im Jahr 2022 noch einmal anfangen würde, was würde ich mir dann anders wünschen?“ Hier wurden zahlreiche Anregungen und Ideen gesammelt, teils konträr, teils einmütig.
Anschließend stellte Jakob Ganten vor, was im überregionalen Arbeitskreis an Ideen erarbeitet wurde. Diese gehen dahin, die Ausbildung von 4 auf 3 Jahre zu verkürzen, allerdings mit einem vorgeschalteten Praktikum von mindestens 6 Monaten. Außerdem ist die Idee, die Inhalte stärker zu strukturieren, so dass ein richtiges Curriculum entsteht, in dem Lehrlinge und Seminarleiter sehen können, was an Inhalten schon vorkam und was noch kommt. Gleichzeitig soll der Freiraum erhalten bleiben, auch individuellen Themen nachzugehen, der Lehrplan muss also Luft für freie Gestaltung lassen. Und nicht zuletzt ist das Ziel, die Ausbildung als private und dezentrale Berufsschule für biologisch-dynamischen Landbau anerkennen zu lassen. Damit wäre es möglich, eine ganz andere Finanzierung zu bekommen, der Abschluss wäre staatlich anerkannt und Lehrlinge hätten Anspruch auf das „Lehrlingsbafög“ BAB. Ob und wieweit uns das in unserer Gestaltungsfreiheit einschränkt wird zur Zeit intensiv geprüft.
Circa 1.500 Euro kostet die Ausbildung pro Lehrling und pro Jahr. Aktuell ist das nicht flächendeckend zu stemmen. Es fehlt an Unterstützung auf struktureller Ebene. In der Region NRW/Hessen muss sogar das kommende erste Lehrjahr abgesagt werden. Es geht hier um die Zukunft der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Es braucht neue Ideen, Geld und viel nützliche Vernetzung.
Von Kreisen und der eigenen Mitte
Das gefühlte Zentrum dieser Herbsttagung wurde allerdings „Der Kreis“. Es gab keine Bühne, keine frontale Moderation an einen bestuhlten Raum. Stattdessen gab es einen großen Kreis, in dem sich alle trafen. Wir saßen auf dem Boden. Und dreimal lag in der Mitte dieses Kreises ein selbst gefilzter Schafwollteppich. Er war gelb, mit Zwiebelschalen gefärbt und „sehr flauschig“, wie viele Menschen erstaunt bekundeten. Hier konnten die Teilnehmer einzeln Platz nehmen, in die Mitte der Gruppe und ein bisschen auch in ihre eigene Mitte treten, sich der Masse zeigen, öffnen, etwas wagen. Von Wünschen, Grenzen und notwendigen Veränderungen sprechen. Es wurde ein intensiver Raum der Begegnung.
Es waren magische Tage, denn die Begegnungen mit sich selbst und in der Gruppe waren besonders. Und das Wetter klang mit ein: Nach grauen und nasskalten Vorbereitungstagen kam die Sonne mit den ersten anreisenden Gästen heraus und wich bis zum Ende nicht mehr von unserer Seite. Minuten nach dem gemeinsamen Abschiedsfoto zog es sich wieder zu und der Regen kehrte zurück.
Wir sagen Danke.